Das Literaturmuseum zu Baku

Bei diesem Text handelt es sich um Frau Prof. Dr. Sieglinde Hartmanns Vorwort zu Das Geheimnis – Geschichten und Erzählungen aus Aserbaidschan.

 

Doch vorab einige Hinweise zur Aussprache aserbaidschanischer Wörter:

x = ch (wie in Nacht)

ǝ = ein leichtes ä

ş = sch

q = g

c = dsch

ı = ein stumpfes i wie das e in Liebe

 

 

Aserbaidschan ist ein Land mit neun Klimazonen und einem Literaturmuseum, das seinesgleichen sucht.

Das Gebäude, welches die Schätze der aserbaidschanischen Literatur aus über tausend Jahren birgt, steht in der Hauptstadt Baku, unweit der mittelalterlichen Altstadt. Der dreigeschossige Baukörper prunkt auf seiner Schauseite mit einer Arkadengalerie von sechs ­monumentalen, mit orientalischen Spitzbogen überfangenen ­ Nischen, die überlebensgroße, weiße Steinskulpturen von Dichtern und Schriftstellern füllen, die zur Zeit der Begründung des Museums im Jahr 1939 zu den prägenden Autoren der aserbaidschanischen Literatur zählten: Füzuli, Vaqif, Mirzə Fətəli Axundov, Xurşidbanu Natəvan, Cəlil Məmmədquluzadə und Cəfər Cabbarlı.

Die Skulpturenreihe ist von links nach rechts chronologisch angeordnet. Sie beginnt mit dem Dichter Füzuli (1494–1556). Er gilt als Begründer der neuzeitlichen Literatur Aserbaidschans, zudem behauptet Füzuli mit seiner Version der orientalischen Liebesgeschichte von Leyla und Madschnun bis heute den Platz eines Klassikers in Musik und Film westlicher wie östlicher Produktionen.

Neben ihm zur Rechten steht Vaqif (1717–1797), der Begründer des Realismus in der aserbaidschanischen Literatur.

An seiner Seite folgt Mirzə Fətəli Axundov (1812–1878), ein vielseitiger Schriftsteller, Dramatiker und Aufklärer, der als erster Autor ein lateinisches Alphabet für die Turksprachen entworfen und mit seinen Komödien die westliche Theaterkultur in den gesamten orientalischen Islam eingeführt hat. Nach ihm ist die aserbaidschanische Nationalbibliothek benannt.

Daneben steht Prinzessin Xurşidbanu Natəvan (1832–1897), die Tochter des letzten Herrschers des Khanats Bergkarabach. Die Aristokratin, die sich auch als Wohltäterin engagiert hatte, nimmt besonders wegen der Schönheit ihrer Ghaselen einen Ehrenplatz unter den berühmtesten Lyrikern der aserbaidschanischen Literatur ein.

Ihr zur Rechten steht der Journalist und satirische Schriftsteller Cəlil Məmmədquluzadə (1869–1932), der das erste Satiremagazin herausgegeben hat, benannt nach dem türkischen Till Eulenspiegel „Molla Nəsrəddin“.

Rechts außen flankiert Cəfər Cabbarlı (1899–1934) die Ehrengalerie, der als Dramatiker und Drehbuchautor die neue, europäisch geprägte Schriftstellergeneration des 20. Jahrhunderts repräsentiert.

Der Figurenschmuck der sechs Arkaden vermittelt somit den Eindruck einer fortschreitenden Annäherung an die literarischen Kulturen des Westens.

Der Eindruck ändert sich jedoch, wenn man die Treppen zum gegenüberliegenden Nizami-Denkmal hinaufsteigt. Von dieser höheren Warte eröffnet sich eine Gesamtschau auf das Bauwerk, worin nun die orientalischen Bauelemente dominieren. Statt der sechs Autorenskulpturen beherrschen die leuchtend blauen Kacheln das Bild der Fassade. Kacheln, die mit ihren orientalischen Mustern den Rahmen und den Hintergrund der großen Arkaden sowie die filigrane Arkadengalerie im Obergeschoss schmücken. Aus dieser Optik verwandelt sich der gesamte Baukörper in einen weiß-blauen Prachtbau orientalischer Tradition.

Ob diese Wirkung beabsichtigt war, entzieht sich meiner Kenntnis. Aus der Rückschau auf die Geschichte der aserbaidschanischen Literatur wirkt es jedenfalls stimmig, wenn die prägende Kraft orientalischer Traditionen in der Architektur anschaulich dargestellt ist.

Schließlich verehren alle Aserbaidschaner bis heute den mittelalterlichen und genuin orientalischen Dichter Nizami (*um 1141–12. März 1209) aus Gǝncǝ, der mittelalterlichen Kulturhauptstadt Aserbaidschans, als ihren größten Dichter, auch wenn seine Werke mehrheitlich auf Persisch überliefert sind. Nizami war ein Zeitgenosse Hartmanns von Aue, seine Gestaltungskraft übertrifft aber bei Weitem diejenige des deutschen Mittelalterklassikers. Nizamis Hauptwerk besteht aus fünf Büchern: einem Lehrgedicht mit eingestreuten Erzählungen, einem Alexander-Epos, zwei höfisch epischen Liebesromanen und dem heute im Westen bekanntesten epischen Erzählzyklus „Die sieben Schönheiten“. Mit welcher Meisterschaft es Nizami verstanden hat, die emotionalen, ethischen und spirituellen Beweggründe menschlichen Handelns in seinen Geschichten darzustellen und damit Maßstäbe für die Erzählkunst aller nachfolgenden Jahrhunderte zu schaffen, ist bereits im 17. Jahrhundert auch von westlichen Gelehrten und Literaten erkannt worden. Seitdem sind Nizamis Werke in alle Kultursprachen der Welt übersetzt und zählen zweifelsohne zu den orientalischen Meilensteinen der Weltliteratur.

Kein Wunder also, dass das aserbaidschanische Literaturmuseum nach dieser überragenden Dichtergröße benannt ist: Nizami Gəncəvi adına Milli Azərbaycan Ədəbiyyatı Muzeyi. Auf Deutsch: Nizami-Gəncəvi-Museum für aserbaidschanische Literatur.

Wie in so manchen Literaturlandschaften erhebt sich ein Gipfel über einem weit ausgedehnten Gebiet an Hügeln und Tälern. So auch in der aserbaidschanischen Literaturgeschichte. Diese abwechslungsreiche Landschaft veranschaulicht die umlaufende Bildergalerie im Erdgeschoss des Gebäudes, die in 33 Schaufenstern Darstellungen der bekanntesten Autoren vom frühen Mittelalter bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zeigen. Bemerkenswert an dieser Autorenschau ist, zumindest aus westlicher Sicht, dass rund die Hälfte der Dichter und Dichterinnen dem Mittelalter zuzurechnen ist. Dieser Schatz an mittelalterlicher Literatur ist allerdings noch kaum durch Übersetzungen erschlossen.

Die großen Ausnahmen bilden Nizamis Werke und das „Buch des Dede Korkut“, eine Heldendichtung in oghusischer Sprache, der mittelalterlichen Vorläufersprache des Türkeitürkischen und Aserbaidschanischen. Der Stoff der darin verbundenen zwölf Heldensagen stammt zum Großteil aus dem Zeitalter der Landnahme im heutigen Aserbaidschan, dem „heroischen Zeitalter“ der aserbaidschanischen Geschichte. Ein historischer Zufall wollte es, dass die älteste und vollständige Handschrift dieser Heldendichtung im 18. Jahrhundert in der königlich-sächsischen Bibliothek in Dresden aufgefunden wurde und von dem deutschen Orientalisten Heinrich Friedrich von Diez (1751–1817) im Westen bekannt gemacht worden ist. Seitdem ist das Werk ebenfalls in alle Kultursprachen der Welt übersetzt worden.

Die übrigen mittelalterlichen Autoren, die in diesen einzigartigen literarischen Schaukästen ausgestellt sind, lohnen aber gleichfalls einen Entdeckerbesuch im Inneren des Museums. Dabei ist besonders eine weibliche Dichterin, die legendäre Lyrikerin Məhsəti Gəncəvi (12. Jahrhundert), zu empfehlen, oder auch der einzige Kaiser unter Aserbaidschans Dichtern, Schah Ismail (aserbaidschanisch, Şah İsmayıl 1487–1524). Dieser Kaiser begründete das erste Großreich unter aserbaidschanischer Führung; er regierte persisch und dichtete aserbaidschanisch, wobei er als Dichter den Beinamen Xətai führte.

Wenn man das Innere des Literaturmuseums durchstreift, wird man feststellen, dass sich die Literaturlandschaft Aserbaidschans nicht minder vielgestaltig darstellt wie die geophysische Gliederung des relativ kleinen Landes in neun Klimazonen.

Zugleich wird verständlich, wie sich auf der Basis dieser reichen Tradition in unserer Zeit eine so vielfältige literarische Szene entwickeln konnte, wie wir sie im vorliegenden Erzählband vorstellen.

Er enthält 24 Prosatexte, die in Umfang und Erzählstil teilweise so stark divergieren, dass man ihre Autoren kaum derselben Literaturlandschaft zuordnen mag. Auch werden deutschsprachige Leser sich fragen, worin überhaupt noch orientalische Traditionen zu erkennen sind.

Denn es ist unverkennbar, dass selbst der älteste unserer Schriftsteller, Cəlil Məmmədquluzadə, mit seiner Geschichte von einem ungebildeten Landbewohner, der keine Vorstellung von der profanen Funktion eines Briefkastens besitzt, stilistisch eher von einem europäischen Realismus geprägt zu sein scheint als von einem „orientalischen“ Märchenstil. In der besonderen Form des Humors, der dieser eher banalen Verwechslungsgeschichte ihren besonderen Reiz verleiht, werden wir indes ein spezifisch „aserbaidschanisches“ Kolorit erkennen, das in der zurückhaltenden, aber tragenden Sympathie des Erzählers für menschliche Schwächen begründet liegt.

In der Reihenfolge der ausgewählten Erzähltexte, die nach der Chronologie der Lebenszeiten unserer Autoren angeordnet ist, dominieren eindeutig Werke, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst sind; die letzteren Texte stammen aus unserer Gegenwart.

Der westliche Leser sollte sich klar machen, dass Aserbaidschan von 1922 bis 1990 als Sowjetrepublik in die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) eingegliedert war und erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die staatliche Unabhängigkeit erringen konnte. Das literarische Schaffen zur Zeit der Sowjetherrschaft war daher den ideologischen Vorgaben des „sozialistischen Realismus“ unterworfen. Dennoch haben es die Autoren dieser Epoche, die wir hier ausgewählt haben, geschafft, die ideologischen Zwänge zu unterlaufen oder zu umspielen, oft mithilfe von Ironie und Komik.

Das zeigt sich beispielsweise an Kabinettstücken eines humoris­tischen Stils, worin sich die Zwänge des Regimes wie in der Geschichte von Onkel Bilal und dem Dorfsowjet („Das Geheimnis“ von Ramiz Rövşǝn) in Slapstick-Komik auflösen. Eine weitere Spielart dieses Humors bietet die Geschichte „Habilitation“ von Mir Cǝlal – eine köstliche Satire auf Usancen in akademischen Laufbahnen.

Im krassen Gegensatz dazu zeugt ein bitterer Zynismus davon, wie Herzlosigkeit oder Unmenschlichkeit das Leben der Menschen vergiften kann. Davon handeln Kurzgeschichten wie „Salz“ von İsi Mǝlikzadǝ oder „Der Scherz“ von Yaşar.

Wieder andere Erzählungen nehmen den Leser durch subtil verästelte Geschehnisse gefangen, wie beispielsweise in Maqsud İbra­himbəyovs Erzählung „Kam eine Eule geflogen“. Darin legt der Erzähler die zerstörerischen Faktoren, welche die Psyche seiner Figuren zu zerrütten drohen, Zug um Zug in überraschenden Wendungen in der Handlung frei. Der Autor hebt aber das tragische Ende durch einen Kunstgriff auf, indem er die Geschichte aus der Perspektive eines Kindes erzählt, das die eigentliche Tragik nicht erfassen kann.

Für westliche Leser besonders überraschend dürften Erzähltexte wirken, die vom westeuropäischen Surrealismus inspiriert scheinen. Hierzu gehören unter anderen „Die rote Limousine“ von Anar oder die „Namensvettern“ von Kamal Abdulla sowie die Geschichte „Sperlinge“ von Afaq Məsud, die durch ein besonders fein gesponnenes Psychogramm der Hauptfigur besticht.

Kriegsereignisse aus dem Zweiten Weltkrieg, dem Krieg um Bergkarabach und der Niederschlagung der Unabhängigkeitsbewegung im Jahr 1990 bilden die Themen von drei Erzähltexten: „Frohe Botschaften im Herbst“ von Mövlud Süleymanlı, „Der beste Krieg der Welt“ von Rafiq Tağı und „Die Stimme aus dem Meer“ von Sabir Əhmədli. Jeder dieser Texte wirkt vielleicht besonders berührend, weil darin alles plakativ Anklägerische vermieden ist und das menschliche Leiden in ganz eigenen poetischen Bildern verschlüsselt geschildert wird.

Eine der größten Überraschungen für westliche Leser dürfte vielleicht die Erzählung vom Sakko des Geografielehrers bergen, die der jüngste Autor unseres Erzählbandes, Cavid Zeynallı, verfasst hat. Hier finden sich all jene Anklänge an einen „orientalischen“ Märchenstil, wie sie ihn Freunde der Geschichten aus Tausendundeine Nacht erwarten, allerdings doch in modern verfremdetem Stil. Auf jeden Fall ist auch diese Erzählung, die unseren Band beschließt, von den spezifisch aserbaidschanischen Spielarten eines Humors getragen, die den Erzähler wie seine Leser mit Sympathie für die Menschen seiner erzählten Welt erfüllt.

Insgesamt präsentiert sich in dem vorliegenden Band eine Erzählwelt von höchst abwechslungsreich geschilderten Ereignissen des menschlichen Lebens. Eines Lebens, das sich zwar in unzähligen Einzelheiten von den Lebenswelten der westlichen Welt unterscheidet, das aber dank des unverkennbaren Nonkonformismus der Autor­persönlichkeiten großes Interesse an der Entdeckung dieser unbekannten Welt wecken dürfte, die sich mit der aserbaidschanischen Literatur eröffnet.

Prof. Dr. Sieglinde Hartmann

Würzburg/Frankfurt am Main im Oktober 2017