Die Evangelien in aramäischer Sicht

Neuer Johannes Verlag Schweiz

30,00 

Auch erhältlich: Der neue Weg – die ersten Christen

Auch erhältlich: Ursprung des Neuen Testaments

Übersetzt v. Dr. Richard E. Koch, Lugano, 1963. 7. Auflage 2017, 473 Seiten, 6 Tafeln, 2 Register Dieses Buch ist im Neuer Johannes Verlag, Lugano (Schweiz), erschienen. Bei uns der Vertrieb für Deutschland und Österreich.

Hunderte von bislang ungenügend verstandenen Stellen durch aramäische Manuskripte und uralte, unverändert gebliebene orientalische Bräuche erklärt von George M. Lamsa

 

LESEPROBE

 

Nadelöhr und Kamel

 

„Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.“ Mt. 19:24.

Das aramäische Wort gamla hat je nach dem Zusammenhang, in dem es vorkommt, ganz verschiedene Bedeutungen und kann mit «Kamel», «Strick/Seil» oder «Balken» übersetzt werden. Tritt es mit «reiten» zusammen auf, dann ist natürlich «Kamel» gemeint; wird es in Verbindung mit «Nadelöhr» erwähnt, dann bedeutet es selbstverständlich einen «Strick» oder ein «Seil». In keinem einzigen aramäischen Sprichwort, und auch nirgends in der ganzen aramäischen Literatur wird das Kamel je in Zusammenhang mit einem Nadel­öhr erwähnt. Dagegen bestehen im Sprachgebrauch Redewendungen, in denen gleichzeitig von einem Strick und einer Nadel gesprochen wird. Beim Kaufen von Nähfaden sagen orientalische Frauen u. a. oft: «Der ist ja geradezu ein Seil, den kann ich nicht gebrauchen», womit sie andeuten wollen, dass der Faden für die Ösen ihrer Nadeln viel zu dick ist. Stricke und Seile gibt es in jedem nahöstlichen Haushalt, denn man braucht sie zum Festbinden von Traglasten auf den Rücken von Männern und Tieren. Vor und nach solcher Verwendung hängt man sie an den Hauswänden auf oder legt sie in eine Ecke.

Das Gespräch über den Reichen fand wahrscheinlich im Innern eines Hauses statt. Wir können uns gut vorstellen, dass Jesus dabei auf die Stricke und Seile hinwies, die Er dort sah, um Seinen Zuhörern deutlich zu machen, was Er bei Seiner Verurteilung der Geldgier des reichen Orientalen, der seine Schätze auf unrechtmässige Weise zusammengerafft hatte, ausdrücken wollte. Er sagte zu ihnen: «Es ist leichter für ein solches Seil, durch die Öse einer Nadel gezogen zu werden, als für einen Reichen, in das Reich Gottes zu gelangen.»

Nun werden im Osten ganz verschieden grosse Nadeln gebraucht: die winzige für die feine Stickerei; die gewöhnliche Nähnadel, die schon grösser ist und eine grobe Nadel von etwa 15-20 Zentimeter Länge, die häufig von den Arbeitern an ihren Kleidern befestigt oder auf einem Seil angesteckt wird. Eine starke Schnur kann ohne weiteres durch das grosse Öhr dieser Nadel gezogen werden, die man hauptsächlich zum Zusammennähen von grossen Säcken, Teppichen oder der aus Ziegenhaar gewobenen Zelttücher benutzt.

Westliche Bibelforscher haben zur Erklärung des – in der ihnen über­lieferten Übersetzung – merkwürdig klingenden Jesus-Wortes vorgeschlagen, Er habe bei der Erwähnung des Nadelöhrs an ein kleines Tor in der Stadt­mauer gedacht. Dabei gibt es aber in keiner orientalischen Stadt ein derartiges kleines Tor, das «Nadelöhr» genannt wird und für ein Kamel eventuell passierbar wäre. Dieser Deutungsversuch muss daher falsch sein. Im Nahen Osten bestehen noch alte, von Mauern umgebene Städte, die seit den frühen Zeiten bis auf unsern heutigen Tag völlig unverändert geblieben sind. Sie alle besitzen an verschiedenen Punkten ihrer Ringmauern grosse Stadttore, die von den Menschen, Kamelen und allen andern Tieren zum Betreten und zum Verlassen der Stadt benutzt werden. Sie sind die einzigen Stellen, an denen ein Kamel in die Stadt hineingelangen kann.

Das Evangelium erwähnt jedoch nichts von einem solchen Stadttor, sondern spricht deutlich von einem Nadelöhr. In der aramäischen Peschitta lautet diese Bibelstelle: Dadlil Igamla Imeal bakhrora damgata au atira dneaol Imacootha dalaha, was wörtlich übersetzt heisst: «Es ist leichter für ein Seil, durch ein Nadelöhr gezogen zu werden, als für einen Reichen, in das König­reich Gottes zu gelangen.»

Das hier vorkommende Wort gamla finden wir auch bei Matthäus 23 : 24. Dort bedeutet es wirklich «Kamel», denn Jesus spricht an jener Stelle von baka (= kleine Mücke) im Gegensatz zum grossen Kamel. In diesem Fall handelt es sich um eine Gegenüberstellung von prinzipiell Vergleichbarem, nämlich von zwei lebenden Tieren, und die rhetorische Hyperbel ist daher durchaus am Platz, während der Kontrast «Kamel: Nadelöhr» keinen Sinn ergeben kann. Jedermann im Orient weiss, dass ein Kamel unmöglich durch ein Nadelöhr geht, dass aber ein dünnes Seil, wenn auch mit sehr viel Mühe, vielleicht durch die Öse einer der dort jedermann bekannten, sehr grossen Nadeln gezogen werden könnte.

Derartige Ausdrücke, welche die Begriffe Faden/Schnur/Strick/Seil mit einem Nadelöhr, oder ein Kamel mit einer kleinen Mücke verbinden, sind im Orient als stehende Redewendungen gang und gäbe. Bei solchen Vergleichen oder Gegensätzen muss jedoch stets eine gewisse normale, gemeinsame Basis vorhanden sein, denn ohne eine entsprechende Grundlage wäre das Bild sinnlos.

Das häufige Vorkommen derselben aramäischen Wörter in stark verschie­denen Bedeutungen ist auf die Armut des damals zur Verfügung stehenden Vokabulars zurückzuführen. Aramäisch ist eine sehr alte Sprache, und die Evangelien wurden zu einer Zeit geschrieben, in der die damaligen semitischen Hirtenvölker im täglichen Leben noch keinen grossen Wortschatz benötigten. Das Prägen neuer Begriffe drängte sich daher bei ihnen kaum auf. Die Kunst des Schreibens war noch jung, und der Buchdruck wurde sogar erst viele Hunderte von Jahren später erfunden (Mk. 10 : 25; Lk. 18 : 25).