Leseprobe aus

40 Tage

240 Seiten, Paperback

Format 15.6 x 23.5cm

Erschienen 01. May 2014

ISBN: 978-3-929345-64-3

Copyright 2005 Verlag Hans-Jürgen Maurer

Inhalt

Einleitung von Annemarie Schimmel
Vorbemerkung
Vorbemerkungen des Verlags

Tagebuch des Halvet
1. bis 40. Tag

Appendix:
Wie Phönix aus der Asche
Tagebuchauszüge des zweiten Halvet
Kommentare
Das Blutopfer
Betrachtungen zur These der »morphischen Resonanz«
Die Person des Lehrers
Physiologische Begleiterscheinungen
Naturwissenschaftliche Ansätze
Die Physiologie der Halluzinationen
Methoden der Sufi-Schulung
Ritualgebet
Dhikr
Die physiologische Dimension
Neurophysiologische Auswirkungen der Körper­bewegungen
Die elektro-physiologische Dimension
Fazit
Methoden spiritueller Schulung: »gesund machend« oder »krank machend«?
Die Funktionalität von Trauer und Verlust
Der »Ruf zum Pfad« und seine Konsequenzen
Symptomatologie des Erwachens
Spiritualität und Sexualität
Die Authentizität mystischer Erfahrungen
Das Halvet im transkulturellen Vergleich
Struktur und Methodik
Veränderte Bewusstseinszustände und emotionales Geschehen
Sensorische und außersensorische Wahrnehmungen
NDE-Erfahrungen
Zweck und Ziel
Fazit
Das Land der Wahrheit

Anhang
Fragebogen zum Halvet
Glossar muslimischer Personen
Glossar medizinischer und psychologischer Fachausdrücke
Übersetzung fremdsprachiger Zitate
Literatur

Leseprobe:

Tagebuch

 »… so suchet Zuflucht in der Höhle; euer Herr wird Seine Barmherzig­keit über euch
breiten und euch einen tröstlichen Ausweg aus eurer Lage weisen.«

Sura 18/17

»Asya’ya hoş geldiniz, Mihriban Hanım«[1], sagt lächelnd der Sheykh[2], »willkommen in Asien.« »Hoş bulduk«, antworte ich und löse mich von dem Anblick der großen Moscheen, die hinter uns gegen den langsam dunkel werdenden Istanbuler Abendhimmel aufragen.

Der Sheykh sitzt heute selbst am Steuer des kleinen weißen Autos, das nach einigen Mühen an diesem kalten, regnerischen Januartag doch noch angesprungen ist. Wir lassen die große, moderne Brücke hinter uns, die Europa mit Asien verbindet. Schon bald sind wir mitten in den alten Gassen Üsküdars, des asiatischen Teils dieser Stadt zweier Kontinente. Noch zweimal halten wir kurz: »Die Oliven hier sind gut.« »Äpfel zwischendurch, so ab und zu, sind auch nützlich.« Ach ja, auch noch ein Paar Plastik-Badeschuhe.

Weiter geht die Fahrt, an den Mauern der sich schier endlos ausdehnenden alten Friedhöfe entlang. Die Autoscheinwerfer erfassen die Silhouetten der stillen, hohen Zypressen und der schmalen islamischen Grabsteine, die dort einträchtig in dem langsam in Schnee übergehenden Regen stehen.

Am Abend vorher war ich in Istanbul angekommen. Ein unwirklicher, gespenstischer Flug: Der große Jet der Turkish Airlines fast leer, nur einige Geschäftsleute, ich die einzige Frau, die einzige Ausländerin an Bord. In zwei Tagen würde das Ultimatum gegen Saddam Hussein ablaufen. »Wer fliegt schon heute Richtung Orient?«, sagte die Stewardess. Dann ein kurzes Treffen mit Mehmet, meinem Mann. »Ich habe alles für unsere Scheidung eingeleitet. Du brauchst nur noch einem Anwalt eine Generalvollmacht zu unterzeichnen. Dann geht alles ganz schnell.«

»Wir sind da«, verkündet Murat[3], einer der Jünger des Sheykh, der bisher still auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Hinauf geht es im Halbdunkel eines Treppenhauses, das meine Mutter als Stiege bezeichnet hätte. In der leer stehenden Wohnung des bescheidenen dreistöckigen Mietshauses in einem armen Viertel dieser wuchernden Millionenstadt schlägt uns klamm die Kälte entgegen. Im kleinsten der drei Zimmer setzt Murat meinen Koffer ab und stöpselt einen kleinen Elektro-Ofen ein. Ich habe nun etwa zwei Stunden Zeit, um die islamische Vollreinigung, Gusl[4]zu vollziehen, bis der Sheykh wiederkommen wird, um mich »hineinzugeben«[5].

Schließlich ist es so weit. Noch einmal erinnert er mich: Man geht nicht um seiner selbst willen in ein Halvet[6], im Islam gibt es kein Mönchtum[7], der Rückzug ist nur vorübergehend, um dann der Umma, der Gemeinschaft, noch besser von Nutzen sein zu können. »Beten Sie um Frieden in der Welt«, sagt er, »Sie gehen zu einer sehr ereignisreichen Zeit ins Çile.« Und dann, schließlich, nach einigen melodisch rezitierten Gebeten (Gülbank), »Yumuşak geçsin«, »Möge es sanft vorübergehen«. Dann fällt die Zimmertür zu, dann die Wohnungstür, der Schlüssel dreht sich von draußen im Schloss, und ich bin allein.

 Ihr Fleisch [das der Opfertiere] erreicht Allah nicht, noch tut es ihr Blut, sondern eure Ehrfurcht ist es, die Ihn erreicht. Also hat Er sie euch dienstbar gemacht, dass ihr Allah dafür preiset, dass Er euch geleitet hat.
Sura 22/38

Eine flache, harte Baumwollmatratze ist mein einziges Möbel­stück. Ich sehe mich in dem Zimmer um, das nun für 40 Tage, für fast sechs Wochen, meine Wohnstatt sein wird: Das Fenster ist mit einem zerschlissenen oliv-gelb gestreiften Vorhang verdunkelt. Dazu eine Biedermeier-Streifentapete, cremefarbig mit Rosen­blüten, wie in deutschen Schlafzimmern der fünfziger Jahre. Teils hat sie sich von der Wand gelöst und hängt locker herab. In einer Ecke habe ich auf einer leeren Kaufhof-Plastiktüte meine Habse­ligkeiten ausgebreitet: meine Zahnbürste, Zahnpasta (mein Sohn Timur hat mir noch schnell seine eigene zugesteckt, die, wie er meint, viel besser sei als meine »Durchschnittsmarke«), Shampoo und Haarbürste, einen Fön. In einer anderen Ecke liegt der Koffer mit meiner Kleidung und der Ersatz-Bettwäsche. An den langen Nägeln, die über dem kleinen Fenster aus geriffeltem Glas in die Tür geschlagen sind, hängen mein Handtuch und mein Bademantel. Direkt neben meiner Matratze, auf einer Karstadt -Plastiktüte, der Heilige Koran und die Bücher der beiden Autoren des 13. Jahrhunderts, die mir der Sheykh zusätzlich genehmigt hat: Hz. Mevlana[8] und Ibn Arabi[9].

An einen Nagel über meinem Lager habe ich den Kalender gehängt, den mir meine Tochter Amina gemalt hat: In arabischer Kalligraphie hat sie geschrieben Bismillahir-rahmanirahim[10] und das Hadith[11] »Strebe nach Wissen, von der Wiege bis zum Grab«. Dann die ganzen Daten der nächsten 40 Tage … »Wenn du die Nase voll hast, dreh den Kalender einfach um«, hat sie gesagt. Auf der anderen Seite klebt die Kopie eines Posters, das sie gerade bei ihrem Internatsaufenthalt in Frankreich erstanden hatte: zwei Hände, die eine nasse, äußerst indigniert guckende, von Wasser und Shampoo triefende Katze hochhalten. Dazu hat sie dem Tier eine Sprechblase in den Mund gelegt: »Have fun learning!!«

Ich denke an das andere Tier, das heute sein Leben für mich gegeben hat[12], an all das Blut, das rot dampfend über den weißen Marmor rann. Wir waren durch den dichten Istanbuler Nachmit­tagsverkehr nach Eyüp gefahren, um dort das erforderliche Ritualopfer zu erbringen. Ich muss wohl ziemlich hilflos die etwa 30 Schafe angesehen haben, die sich unter einem Überdach zusammendrängten. Jedenfalls entschied Recep, ein weiterer Jünger des Sheykh, für mich: »Dies da!«

Nun geht alles ganz schnell: Drei Beine werden zusammenge­bunden, das Tier wird gewogen und dann in einem Schubkarren zur Opferstelle gefahren. »Wer übernimmt die Statthalterschaft (vekillik)?«, fragt einer der Angestellten. Ich nicke nur, habe Angst, dass ich in Tränen ausbrechen werde, wenn ich auch nur ein Wort sage. Aber es hilft nichts. »So sagen Sie es doch«, fordert der Mann mich auf, das scharfe Messer in der Hand. Irgendwie bringe ich doch die nötigen Worte heraus. Die Angestellten rezitieren die erforderlichen Gebete.

»Sie müssen das Schaf noch einmal berühren, noch einmal bewusst Kontakt mit ihm aufnehmen«, hatte der Sheykh gesagt. Ich lege dem Tier meine Hand zwischen die weichen Ohren. Ganz ruhig und gelassen sieht es mich an, kaut noch die letzten Grashalme, die ihm aus dem Maul hängen. Warum es bloß noch kaut? Ob es nicht weiß, dass es jetzt sterben wird? Oder weiß es um ganz andere Dinge, so kurz vor dem Tod?

Als ich zurücktrete, durchschneidet einer der Angestellten mit einem raschen Schnitt die Kehle. Der Kopf wird zurück gebogen, und das hellrote Blut schießt pulsierend hervor, in die hierfür vorgesehene Rinne aus weißem Marmor. Ein anderer Angestellter steht mit einem Wasserschlauch bereit, um nachzuspülen. Einer der Männer taucht einen Finger hinein und drückt mir ein blutiges Mal auf die Stirn. Der inzwischen in matschige Schnee­flocken übergegangene Regen wird von dem starken Ostwind in die Opferstätte hineingetrieben und mischt sich mit dem Blut und dem Wasser, das dampfend durch die Rinne fließt, um wieder mit der Erde eins zu werden.

Und irgendwie ist es mir weiterhin gelungen, nicht zu weinen. Wann ist Leben wohl zu Ende? Das Tier hat keinen Laut von sich gegeben, zittert nur in Schüben, zwischendurch ist es reglos. Dann, schließlich, Staccato-Bewegungen mit den Beinen, drei zusammengebunden, eines frei in der Luft. Irgendwann beschließen die Angestellten, dass nun der Tod das Leben abgelöst hat. Sie durchschneiden die Schnur, und die drei Beine fallen auseinan­der. Das Abhäuten geht unglaublich schnell: Mit einem Autoreifen-Aufpumpgerät wird Luft zwischen die Haut und das Fleisch geblasen. Dann wird das Fell in einem Stück sauber vom Körper getrennt. Das noch junge, kleine Tier ist – vielmehr: war – ein Männchen, wie ich jetzt sehe. In wenigen Minuten hängt es an einem Fleischerhaken, die Eingeweide an einem anderen Haken, das Fell liegt in einer Ecke. Ob ich selbst auch von dem Fleisch haben möchte? Wieder spricht zum Glück Recep für mich, nein, Tier und Fell sollen komplett an die Armen gehen.

Alles scheint mir so unwirklich wie dieser fast leere Flug am Abend zuvor. Irgendwie aus der Ferne betrachtend, frage ich mich, was ich, eine Wissenschaftlerin aus einem westlichen Industrieland des 20. Jahrhunderts, hier bei diesem uralten archaischen Ritual verloren habe. Langsam gehen wir hinaus und ich bin froh, dass auch Recep nichts sagt, dass wir miteinander schweigen können.

Als wir fast draußen sind, kommt uns eine kleine, armselig gekleidete alte Frau entgegengehumpelt. Sie sieht das frische Blutmal auf meiner Stirn und ergreift mit ihren beiden Händen eine meiner Hände, führt diese an Mund und Stirn und murmelt lächelnd: »Allah razi olsun«, »Möge Allah es Ihnen vergelten«. Dann eilt sie durch den eisigen, von Windböen getriebenen Schneeregen weiter, um sich in der dort angegliederten Armenküche ihre Ration Opferfleisch zu holen.

Ich denke daran, wie oft ich gedankenlos im Supermarkt in Klarsichtfolie abgepacktes Fleisch in meinen Einkaufswagen habe gleiten lassen. Fleisch von Tieren, die ohne Gebete geschlachtet worden waren, deren Blut nicht an die Erde zurückgegeben wurde und für deren Sterben kein Mensch bewusst die Verantwortung, die »Statthalterschaft«, übernommen hat.

[1] Im Türkischen ist der Vorname die offizielle Anrede, gefolgt von Hanim = »Frau« oder Bey = »Herr«.

[2] Sheykh, Pir oder Murshid sind Bezeichnungen für die spirituellen Führer der Sufi-Orden.

[3] Alle Namen, außer denen meiner eigenen Familie, sind zum Schutz der Betroffenen geändert worden.

[4] Gusl = rituelle Waschung des ganzen Körpers.

[5] Die Eingabe erfolgte nach der Tradition Hoca Ahmet Yesevis (s. Glossar
muslimischer Personen im Anhang, S. 224ff).

[6] Halvet (Einsamkeit) oder çile (40 Tage) = islamische Klausur.

[7] »Das Mönchtum jedoch, das sie [die Christen] sich erfanden – das schrieben Wir ihnen nicht vor …« Sura 57/28.

[8] Hazreti Mevlana Celaleddin Rumi (1207–1273). Siehe auch das Glossar muslimischer Personen im Anhang, S. 225.

[9] Auch als »as-Sheykh al-Akbar«, der »größte Scheich«, bekannt (1165–1240).

[10] Bismillahi’r-rahmani’r-rahim = »Im Namen Gottes, des Barmherzigen, des Allerbarmers«, die Eröffnungszeilen jeder Sura des Korans, mit denen in islamischen Ländern fast jegliche Handlung eingeleitet wird.

[11] Hadith Qudsi = außerkoranische Worte Gottes, die in der islamischen Tradition neben der »Sunnah«, der von Muhammad (s.a.) konkret vorgelebten Handlungsweise, als verbindlich für eine beispielhafte Lebensführung stehen.

[12] Siehe Kommentar »Das Blutopfer«, S. 135.